Montag, 12. Februar 2007

ohne die finsternis zu hinterfragen.

heute morgen fand ich durch zufall auf den seiten der boell-stiftung die übersetzung der rede von rakel dink, die ich schon vor längerer zeit gerne ins internet stellen wollte. ihre sprache, ihre worte sind nicht gleich den meinen, ins deutsche übertragen klingen vielleicht so oft wiederholte anrufungen wie "mein geliebter/sevgilim" noch eine spur pathetischer. das alles nimmt aber der rede nichts von ihrer bedeutung im doppelten sinne, dass sie wichtig war, berührend - und auch tatsächlich etwas aussagte.

"Ohne die Finsternis zu hinterfragen, die aus einem Baby einen Mörder macht, ist alles Tun vergeblich" - das war die zentrale aussage, die hängen blieb.
Und tatsächlich, mal ganz abgesehen von diesem unvergleichbaren einzelfall: wer das nicht wissen will, was will der?
Gestern ein interview zu lesen versucht in altyazi, einer türkischen kinozeitschrift mit dem regisseur des kürzlich hier angesprochenen barda, serdar akar, übrigens dem selben, der auch für das tal der wölfe - irak verantwortlich zeichnet, bei dem der widerwille den interviewern anzumerken war. Man meint es mit einem komplett debil-infantilen violenzapologeten zu tun zu haben: Über all, gerade in istanbul, ist gewalt um uns rum, und das ist nun mal auch irgendwie so, und die zeig ich euch jetzt also mal, möglichst so hart sie eben sein kann. und am schluss setze ich aber noch ein sahnehäubchen sozialkritik drauf, damit man mir nicht violence pour la violence vorwerfe: die einen sind arm, die andern nicht. ja, würden Sie da nicht zum massenvergewaltiger werden, meine damen und herrn?

Einer frau, der es unendlich mehr zuzuhören gelte, die aber keinen verleih im hintergrund hat, nun das wort:

(ps: nächste woche wird es eine lange geplante konferenz an der bilgi university unter leitung der heinrich boell geben: From the Burden of the Past to Societal Peace and Democracy. Mal sehen, wie sich das aktuelle da mit der langzeitplanung überlappt.)

Rakel Dink:

Es war mir bestimmt, die Ehefrau meines “Çutak”* zu sein. Heute bin ich hier, zutiefst traurig und stolz zugleich. Wir alle - ich, meine Kinder, meine Familie und ihr - wir sind zutiefst traurig. Diese stille Liebe verleiht uns wenigstens Kraft und erweckt eine schmerzliche Freude in uns. In der Bibel heißt es bei Johannes 15,13: “Es gibt keine größere Liebe als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.”

Meine lieben Freunde, wir verabschieden uns heute von der einen Hälfte meines Körpers, meinem Geliebten, dem Vater meiner Kinder, dem Oberhaupt unserer Familie und eurem Bruder. Ihm zu Ehren machen wir diesen Schweigemarsch, ohne Slogans und Transparente, in Ruhe und Respekt vor den anderen, die links oder rechts, vor oder hinter uns gehen. Schweigend erheben wir heute unsere Stimme. Mit dem heutigen Tag beginnen die Abgründe ans Licht zu dringen.

Wer auch immer der Mörder war, wie alt er auch sein mag, 17 oder 27 Jahre, ich weiß, dass er einmal ein Baby war. Ohne die Finsternis zu hinterfragen, die aus einem Baby einen Mörder macht, ist alles Tun vergeblich, meine Brüder, meine Schwestern.

Meine Brüder, meine Schwestern, seine Liebe zur Aufrichtigkeit, zur Durchsichtigkeit, seine Liebe zu seinen Freunden haben ihn soweit gebracht. Seine Liebe, die ihm den Mut gab, der Angst entgegenzutreten, hat ihn groß gemacht. Man sagt, er war ein großer Mann. Ich frage euch: Wurde er groß geboren? Nein. Auch er wurde wie einer von uns geboren. Er ist nicht vom Himmel gefallen. Auch er war aus Staub und Erde und wie wir alle in unserer Körperlichkeit der Vergänglichkeit preisgegeben. Aber die Lebendigkeit seiner Seele, das was er gemacht hat, die Art und Weise wie er es gemacht hat und die Liebe in seinen Augen, in seinem Herzen haben ihn groß gemacht. Der Mensch ist nicht von sich aus groß. Groß macht ihn das, was er tut. Ja, er ist wirklich groß geworden. Er hat groß gedacht und Großes gesagt. Auch ihr habt groß gedacht, indem ihr heute hierher gekommen seid. Schweigend habt ihr Großes gesagt. Auch ihr seid groß. Bleibt nicht stehen an diesem heutigen Tag, begnügt euch nicht damit.

Er hat heute in der Türkei den Anfang einer neuen Zeit gemacht. Ihr habt es besiegelt. Mit ihm haben sich die Schlagzeilen, die Gespräche, die Verbote geändert. Für ihn gab es keine „Unantastbarkeiten“, keine „Tabus“. Ihm ging das Herz über, wie es in der Schrift heißt. Er hat einen hohen Preis dafür bezahlt.

Eine Zukunft, in denen die Preise bezahlt sein werden, ist nur möglich, wenn wir die Hrant’s lieben und an Hrant’s glauben. Nicht mit Hass, Verachtung und Überheblichkeit eines Blutes einem anderen gegenüber ist es möglich, dieses erhabene Ziel zu erreichen, sondern nur wenn wir den anderen wie uns selbst sehen, wie uns selbst respektieren, als Teil von uns selbst respektieren.

Ach, meine Brüder, meine Schwestern, sie haben ihn seinem häuslichen Paradies entrissen, das er mit Jesu Hilfe geschaffen hatte. Sie haben ihn ins himmlische, ewige Paradies fliegen lassen. Noch waren seine Augen nicht müde, noch war sein Körper nicht alt und krank, noch hatte er nicht genug von denen, die er liebte, als sie ihn ins himmlische Paradies fliegen ließen.

Auch wir werden kommen, mein Geliebter, in dieses unvergleichliche Paradies. Dort findet nur die Liebe, nichts als die Liebe Einlass. Nur die Liebe, die höher steht als die Sprachen der Menschen und Engel, als die Weisheit der Propheten, das Wissen um alle Geheimnisse, höher als der Glaube, der Berge versetzt, höher als die Wohltätigkeit, die alles Besitztum den Armen schenkt und höher als die Bereitschaft, sich selbst aufzuopfern, nur die Liebe findet Einlass in dieses Paradies.

Dort werden wir ewig miteinander leben in wahrhaftiger Liebe, einer Liebe, die frei ist von Eifersucht, die nicht nach dem Gut des anderen verlangt, einer Liebe, die niemanden tötet, niemanden erniedrigt, einer Liebe, die den Bruder sich selbst vorzieht, auf eigene Rechte verzichtet, nicht rachsüchtig ist, einer Liebe, die vergibt, einer Liebe, die wir beim Messias finden, die er über uns ausgeschüttet hat.

Wer kann jemals vergessen, was du getan hast, was du gesagt hast, mein Geliebter? Welche
Finsternis kann das alles vergessen machen, mein Geliebter? Alles was passiert ist und passiert?
Kann die Angst es vergessen machen, mein Geliebter? Das Leben? Die Unterjochung? Die
Genusssucht der Welt, mein Geliebter? Oder kann der Tod das alles vergessen machen, mein Geliebter? Nein, keine Finsternis kann das vergessen machen, mein Geliebter.

Auch ich habe dir einen Liebesbrief geschrieben, mein Geliebter. Es hat mich viel gekostet, mein Geliebter. Dass ich das alles schreiben konnte, verdanke ich Jesus. Lassen wir auch ihm sein
Recht. Geben wir allen ihr Recht zurück, mein Geliebter.

Du hast dich von deinen geliebten Menschen getrennt.

Du hast dich von deinen Kindern,

deinen Enkeln getrennt.

Du hast dich von all denen getrennt, die dich heute hier verabschieden.

Du hast dich von meinem Schoß getrennt.

Von deinem Land hast du dich nicht getrennt.

*Çutak (armenisch) – Geige / Rakel Dinks Kosename für ihren Mann

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